Daguerreotypie: Der reisende Photograph

Vor Jahren, ehe die Daguerreotypie und die Photographie erfunden war, erschienen von Zeit zu Zeit in den abgelegensten Dörfern zwei Arten von Künstler – der Porträtmaler und der Silhouetten- oder Schattenbilderschneider.

Der erstere war immer der beliebtere. Seine Bilder waren größer und effektvoller und wurden in die Staatsstube gehängt, in das Gemach, das nur bei hohen festlichen Anläßen den Besuchern geöffnet wurde und auf welche diese Bilder stets einen bleibenden Eindruck machten. Die Silhouetten dagegen, welche in kleinem Format aus schwarzen Papier ausgeschnitten wurden gaben nur den Umriß des Kopfes und Schulter im Profil; obschon ein solches Bild dem Original meistens sehr ähnlich war, so konnte doch diese Aehnlichkeit nicht so leicht entdeckt werden.

Hier und da, in den Putzzimmern der alten Landhäuser finden sich solche Schattenbilder, welche die einstige Pracht der anspruchsvollen lebensgroßen Oelgemälde überdauert haben.

Die Photographie hat größtentheils die unvollkommene Versuche jener wandernden Künstler verdrängt und liefert ungleich bessere Producte. Die Sonne ist der unfehlbare Künstler, die einzige menschliche hülfe, die sie braucht, ist ein wenig Geschicklichkeit in den Stellungen, einige Gewandtheit in der  Handhabung des Apparates, Alles Uebrige thut sie selbst und zwar mit einer Genauigkeit und Schönheit, welche das Vermögen der größten menschlichen Geduldsarbeit übersteigt.

Die Photographie ist ohne Zweifel eines der mächtigsten Werkzeuge der allgemeine Weltbildung; sie bringt die fernen Länder vor unsere Schwelle. Wenn wir Abends um den Tisch versammelt sind und mit Hülfe des Mikroskopes und mit den Bildern, welche die Sonne für uns gezeichnet hat, die Pyramiden von Egypten besuchen, in das steinerne Auge der Sphinxe blicken, Alpenhöhen und Thäler durchschreiten, fremde Menschen und Thiere, Bäume und Blumen sehen oder auf den prächtigen Strassen europäischer Städte wandeln, so tragen uns diese Bilder wie ein Zaubermantel in die entferntesten Regionen der Welt – ohne uns der Gefahr auszusetzen, welche der Besitzer de Zaubermantels fürchten mußte, durch ein Wort, das die Bewunderung ihm abnöthigen konnte, den schönen Zauber zu verlieren.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß seit die Porträt- und Landschaftsphotographien allgemein eingeführt sind, ein besserer Geschmack für die Bilder im Volke erweckt wurde. Es gibt nur wenige Familien welche nicht die Photographien berühmter Männer und Frauen oder historisch berühmter Plätze besitzen; Familienporträts haben sie sicher Alle, welche angenehme liebe Erinnerungen in ihnen wach rufen.

Die reisenden Photographen sind namentlich in Amerika gerngesehene und vielbeschäftigte Wanderer. Wo sie einzelnen Dörfer und Farmen oft viele Meilen weit auseinanderstehen, da benützt wohl Jedes womöglich die nicht oft wiederkehrende Gelegenheit, sein Bild für Andere, oder Anderer Bild für sich machen zu lassen. Das wandernde photographoische Atelier ist auch für diese Zwecke ganz vortrefflich eingerichtet und enthält sogar einen ganz eleganten Salon, in dem schon ziemlich zahlreiche Gruppen aufgenommen werden können.

Einen solchen reisenden amerikanischen Künstler haben wir hier auf unserem Bilde dargestellt, er ist eben beschäftigt eine Familie mit Ross und Wagen auszunehmen. Da das alte Paar im alten liebgewonnenen Wagen photographiert werden wollte und auch das nicht weniger alte treue Pferd auf dem Bilde nicht fehlen durfte, so musste die Aufnahme im freien geschehen. Wir wollen hoffen, daß das Bild ein recht gelungenes geworden sei und sind gewiß daß jedes Mal ein warmes Gefühl der Freude das alte Paar durchzieht, wenn ihre Augen die wohlgetroffene Photographie erblicken.

 

J. S. 1872

 

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