Reiseziele der Fotografie

An diesen Reisezielen wurde Fotogeschichte geschrieben. Vier legendäre Orte der Pioniere der Fotogeschichte, die Sie unbedingt gesehen haben sollten.

Text: Peter Michels für fotoMAGAZIN 9/2020 (gekürzt und aktualisiert)

VILLA MELZI

Unsere Reise zu den legendären Orten der Fotogeschichte beginnt in Italien. Am Ufer des Comer Sees steht unweit von Bellagio eine herrschaftliche Villa, erbaut vom Vizepräsidenten der ersten Italienischen Republik von Napoleons Gnaden, Fürst Francesco Melzi d’Eril. Heute ist das Haus im Besitz der Mailänder Fürstenfamilie Gallarati Scotti. Der Garten ist der Öffentlichkeit zugänglich.

Grand Tour und Hochzeitsreise

1833 verweilten William Henry Fox Talbot und seine Gattin Constance für einige Wochen dort als Gäste der Familie. Talbot berichtet 1845 in „The Pencil of Nature“: „An einem der ersten Tage des Monats Oktober 1833 vergnügte ich mich an den schönen Ufern des Comer Sees in Italien, wo ich mit Wollastons Camera Lucida Skizzen machte.“ Diese Skizzen entstanden mit einer optischen Zeichenhilfe. Die Camera Lucida, 1806 erfunden von William Wollaston, ist ein Prisma auf einem kleinen Stativ, mit dem man Dinge präzise abzeichnen kann. Die Camera Lucida unterscheidet sich von der Camera Obscura dahingehend, dass sie im Tageslicht ohne dunkle Kammer verwendet werden kann und einfach auf ein Zeichenbrett geschraubt wird. Talbots berühmte Skizze der Terrasse ist eher dilettantisch geworden.

Mit Lichtstrahlen malen

Am Abend des 5. Oktober 1833 schrieb er frustriert in sein Tagebuch, es müsse doch möglich sein, Papier mit einer Silberlösung zu beschichten und mit Lichtstrahlen zu zeichnen. Dass der Park und der Aufenthalt Talbots eine wichtige Rolle in der Fotogeschichte spielt, war lange Zeit nicht mal den Kuratoren der Villa Melzi klar. Inzwischen planen die Eigentümer, das kleine Museum in der Orangerie zu erneuern und dort bald auch diese Anekdote der Fotogeschichte aufzuzeigen.

www.giardinidivillamelzi.it

I Giardini Di Villa Melzi, Lungo Lario Manzoni, 22021 Bellagio CO, Italien


LACOCK ABBEY

Reisen wir mit Henry Fox Talbot weiter nach England, zurück auf den Familiensitz Lacock Abbey. Die ehemalige Abtei liegt unweit von Bath in der Grafschaft Wiltshire, nur einen Katzensprung von Stonehenge entfernt. Heute befindet sich das Schloss im Besitz des National Trust in einem tollen Ort mit Häusern aus dem 14./15. Jahrhundert. Es lohnt sich, ein oder zwei Tage hier zu verweilen, zum Beispiel im Sign of the Angel, einem Inn aus dem 15. Jahrhundert oder dem The Red Lion.

Das Fox Talbot-Fotomuseum führt regelmäßig Ausstellungen und Fotografie-Workshops durch. Natürlich sollte jeder Besucher das Rautenfenster in der Bibliothek der Abtei gesehen haben, von dem Talbot sein berühmtes Foto machte. Eine „Schnitzeljagd“ zu Aufnahmeorten von weiteren Ikonen Talbots macht ebenfalls Spaß.

Von Harry Potter und Downton Abbey

Es kann hier durchaus vorkommen, dass Besucher den geschichtsträchtigen Ort mit Filmcrews teilen müssen. Dann wird alles Zeitgenössische entfernt, die Straßen mit Sand aufgeschüttet und die Bewohner und Ladenbesitzer geraten in eine Art Zeitblase. Lacock war Drehort für „Elizabeth I“, „Stolz und Vorurteil“ und „Downton Abbey“. Der Kreuzgang und das Gewölbe mit einem gusseisernen Heizkessel dienten als Filmsets bei Harry Potters „Stein der Weisen“. In der Folge mussten die Kuratoren des Museums feststellen, dass inzwischen viermal mehr Besucher wegen des Harry Potter-Films anreisen, als Fototouristen, die den Ort besichtigen möchten, an dem eines der ersten Fotos der Welt aufgenommen wurde.

Das Rautenfenster
Das Rautenfenster, 1m August 1835 fotografiert.

Fox Talbot war im Januar 1834 von seiner mehrmonatigen Reise durch Frankreich, die Schweiz und Norditalien zurückgekehrt und hatte sofort zu experimentieren begonnen. Im August 1835 gelang ihm das erste brauchbare Abbild. Es entsprach nicht den Vorstellungen, die er nach seinem Aufenthalt in der Villa Melzi hatte. Er zeichnete mit der Kamera ein negatives Bild auf, zwar hoch präzise – aber keine Vereinfachung des Abzeichnens. Nach wenigen Experimenten ließ Talbot seine Erfindung ruhen, bis er von einer ähnlichen Erfindung aus Frankreich hörte.

Lacock Abbey Webseite

Lacock Abbey, Lacock, Chippenham SN15 2LG, Großbritannien


DIE ERSTE LOCATION: MAISON NIÉPCE

Wenn Sie über die französische Nationalstraße 6 von Süden in das 1200-Seelendorf Saint-Loup-de-Varennes fahren, dann macht Sie bereits am Ortseingang ein Denkmal darauf aufmerksam, dass hier die Fotografie erfunden wurde. Das Denkmal trägt allerdings eine inzwischen von der Fotogeschichtsforschung überholte Jahreszahl, was immer wieder zu Verwirrungen sorgt. Nur wenige hundert Meter nördlich beginnt die Rue Nicéphore Niépce. Dort, im Haus Nummer 2, residierte der Fotopionier Joseph Nicéphore Niépce in einem typischen Bürgerhaus des 19. Jahrhunderts. Er hat unter anderem auch den ersten Explosionsmotor erfunden, die Fahrradlenkung und den höhenverstellbaren Fahrradsattel.

Lange blieb sein Haus in Privatbesitz und war der Öffentlichkeit nicht zugänglich. 1999 konnte schließlich Piérre-Yves Mahé, der Direktor der Pariser Fotoschule Speos, jenen Teil des Anwesens anmieten, in dem sich die Werkstatt und das Atelier von Niépce befunden hatte. In den folgenden Jahren begann die Restauration des Gebäudes. Beim Heben der Bodendielen stellte man fest, dass zwar Chemieflecken auf den Ort des ersten Fotos hinweisen, doch seit Niépces Zeit das Fenster um 70 cm verlegt worden war, aus dem das erste Bild der Fotogeschichte gemacht wurde. Heute können Sie wieder an jenem Ort stehen, an dem Niépce die Aufnahme machte.

Ein neues Museum

In dem Privatmuseum, das nur in den Sommermonaten geöffnet ist, werden Sie über alle Erfindungen von Niépce informiert. Zudem wird hier das wahrscheinlich älteste Fotolabor der Welt (aus Châlon-sur- Saône) ausgestellt. Von hier können Sie eine kleine Fotoroute durch das Umland starten, die zu verschiedenen Aufenthaltsorten der Familie Niépce führt. Das Museum öffnet (wegen Covid-19) seine Pforten erst im Sommer 2021 wieder.

www.photo-museum.org


Das Musée Niépce

Im Geburtsort Châlon-sur-Saône befindet sich das große Museum Nicéphore Niépce. In diesem Haus mit vielen Wechselaustellungen finden Sie auch jene Kamera, mit der die ersten Aufnahmen der Fotogeschichte gemacht wurden. Die Öffnungszeiten des Museums sind allerdings etwas unkonventionell – also unbedingt vorab die Webseite checken. Nur wenige Meter vom Museum entfernt weist eine Gedenktafel im Hinterhof der Rue de l‘Oratoire Nr. 15 auf Niépces Geburtshaus hin.

www.museeniepce.com

Musée Niépce, 28 Quai-des-Messageries, 71100 Chalon-sur-Saône, Frankreich


Die Welt Daguerres

Wir reisen auf den Spuren Louis Jacques Mandé Daguerres in Richtung Paris weiter. Nach der Bekanntmachung der Fotografie im August 1839 kaufte sich Daguerre ein Haus in Bry-sur-Marne, etwa 12 km von Paris entfernt.
Die Stadt informiert gegenwärtig virtuell über Daguerres Wirken an diesem Ort. Daguerre lebte hier bis zu seinem Tod und ist auch auf dem Friedhof von Bry-sur-Marne beerdigt. Ein Daguerre-Museum gibt es noch immer nicht, obwohl viele Relikte seines Schaffens (wie seine Gemälde als Bühnenbildner) im Archiv der Stadt ruhen. Die Stadt hat dem Fotopionier ein Denkmal mitten im Verkehrskreisel vor dem Rathaus gewidmet. Viel sehenswerter
ist jedoch ein Besuch des Dioramas in der Kirche Saint Gervais-Saint Protais, am jenem Platz, der natürlich nach Daguerre benannt ist.
Der berühmte Bürger der Stadt wurde 1842 gebeten, sein Wissen, welches er mit seinem Diorama-Unternehmen gesammelt hatte, in den Dienst der Kirche zu stellen. So gestaltete er ein Altarbild mit den für Dioramen üblichen Spezialeffekten, das jetzt frisch restauriert in alter Pracht erscheint. Die verschiedenen Wohnhäuser stehen noch, eines davon in der Rue Daguerre.


Etwas südlicher von Paris wird seit fast 60 Jahren Anfang Juni der größte Fotoflohmarkt der Welt ausgerichtet (www.foirephoto-bievre.com). Und wenn Sie schon in der Gegend sind, sollten Sie im nächsten Jahr die 15 km Fahrstrecke zum Garten und Museum von Albert-Kahn einplanen. Dann soll das neue Museum fertig sein. Es wird von dem japanischen Architekten Kengo Kuma gebaut und beherbergt die 72.000 Aufnahmen, die der Fotosammler gegen Anfang des 19. Jahrhunderts in der ganzen Welt machen ließ.

www.museedebry.fr

Daguerres Diorama, Kirche St. Gervais & St. Protais, 1 Rue du Four, 94360 Bry-sur-Marne, Frankreich