Peters Fotog’schichten: Versteckte Mütter

Kleinkind auf einem Stuhl mit einer versteckten Person hinter der Lehne, welche das Kind fest hält.

Im 19.Jahrhundert waren kurze Belichtungszeiten unter einer Sekunde nur im Hochsommer oder zur Mittagszeit möglich. Ab 1880 gab es zwar innovative Fotostudios, die mit Bogenlampen arbeiteten. Doch mittlere und kleine Ateliers mussten bis in die 1930er-Jahre mit Tageslicht und Reflektoren auskommen.

Wo heute hochempfindliche Kameras und Serienbelichtungen dem Portraitisten beste technische Unterstützung gewähren, war die Aufnahmetechnik im 19. Jahrhundert noch rudimentär. Eine Atelierkamera mit solidem Stativ und lichtstarkem Objektiv blieb unerlässlich. Fotografieren war elitär und teuer und zudem musste die Fotochemie für die Entwicklung der Glas- und Metallplatten stets frisch sein, damit sie schnell reagierte.

KINDERFOTOGRAFIEN WAREN TEUER

Kinderbilder waren in diese Zeit oft teurer als Portraits von Erwachsenen. Für das Fotografieren der Kleinen mussten sich die Portraitisten besondere Tricks einfallen lassen. Wie sollte man einem Kleinkind beibringen, sich 20 Sekunden nicht zu bewegen? Jugendlichen und Erwachsenen reichten die Fotografen Kopfstützen aus Metall, um ihre Haltung zu stabilisieren. Derlei Stützen blieben bis in die 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts nötig. Erst die modernen, lichtempfindlicheren Gelatineplanen von Agfa oder Kodak machten sie nach dem Ersten Weltkrieg entbehrlich. Eine andere, spontanere Lösung gegen verwackelte Bilder war es, die Köpfe der Kinder einfach festzuhalten. Auf Mutters Schoß blieb manches Baby ohnehin ruhiger. So kommt es, dass über den Zeitraum von einem ganzen Jahrhundert Aufnahmen existieren, auf denen hinter dem Kleinkind eine Person mehr oder weniger verdeckt erkennbar ist oder ein Arm ins Bild ragt.

Es wirkt bisweilen etwas gespenstisch, wenn sich Erwachsene unter dunklem Tuch verstecken. Die so entstandenen Fotoabzüge wurden später zurechtgeschnitten oder die unbeholfene Haltung der Mutter verschwand hinter einem Passepartout.

In unserem Bildbeispiel (oben) versteckt sich die Mutter hinter ihrem Baby. Die Spitze ihres Hutes ragt noch über den verhüllenden Stoff hinaus. Links unten erkennen wir einen Teil ihres Kleides. Es bleibt unklar, ob diese Mutter sich kniend hinter einem Stuhl versteckt und ihr Baby am Bauch festhält. Möglicherweise hält sie auch selbst den Stoff und das Baby sitzt auf ihrem Schoß. Vermutlich wurde das Portrait von einem Wanderfotografen in den USA bereits im frühen 20. Jahrhundert aufgenommen. Natürlich wissen wir nicht mit Sicherheit, ob sich hinter den Babys auf derlei Fotos wirklich die Mütter verstecken. Es könnten auch Geschwister, Kindermädchen oder Angestellte des Fotografen sein. Auf Bildern mit „versteckten Müttern“ finden sich oft herrlich absurde Szenerien. Sie sind nicht ohne Grund inzwischen ein eigenes Sammelgebiet. Die italienische Künstlerin Linda Fregni Nagler wurde 2013 von Cindy Sherman eingeladen, ihre Sammlung von „Hidden Mothers“ bei der Bienniale in Venedig auszustellen. In einer 56 Meter langen Vitrine präsentierte sie ihre Kollektion von 997 Aufnahmen aus fast 100 Jahren.

Dieser Beitrag von Peter Michels erschien im fotoMAGAZIN 5/2019